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Philipp Scholz
HUGO BALL ARCHIV_

HUGO BALL ARCHIV Hugo Ball Archiv www.pirmasens.de
Hugo Ball Archiv / Alte Post Pirmasens
WS 2012/13
Wilfried Kühn / Barbara Kuon

Barbara Kuon

Konzept für die Dauerausstellung
Hugo-Ball-Archiv
Alte Post, Pirmasens

Ein Archiv mit Manuskripten, Erstausgaben, Fotos, Postkarten und anderen Objekten von Hugo Ball soll ausgestellt werden. Dabei soll bewusst die klassische Form der Archivausstellung – die Präsentation der Gegenstände hinter Glas – vermieden werden. Stattdessen soll die Ausstellung zwei getrennte Bereiche umfassen: Einen Archivraum und einen Aufführungsraum. Diese Aufteilung folgt nicht zufällig der Aufteilung der christlichen kirchlichen Architektur in Krypta und Kirchenschiff. Die Krypta ist der Ort der Reliquien, der Originale, des Auratischen. Der Hauptraum des Kirchengebäudes ist der Ort der Liturgie, des Rituals, der Wiederholung, der Wiederaufführung.

Hugo Ball hat auf konsequente Weise aus seinem Leben ein Werk gemacht. Sein Werk ist seine künstliche Leiche, die er zu Lebzeiten angefertigt hat – eine lebende Leiche, die den natürlichen Tod des Künstlers überdauert. Das Archiv gibt dieser Leiche den Raum zum Weiterleben. Im Pirmasenser Hugo-Ball-Archiv befinden sich Fragmente dieser Leiche, Reliquien.

Bekanntlich geht von der Berührung der Reliquien eine stärkere Wirkung aus als von ihrer bloßen Betrachtung. Daher werden nicht ausgewählte Originaldokumente des Archivs in Vitrinen präsentiert, sondern das Archiv als Ganzes wird in einen separaten Raum innerhalb der Ausstellung (vorgesehen als Lagerraum) transferiert. Das vorhandene Archivmobiliar wird übernommen und gegebenenfalls um ähnliches, ebenfalls gebrauchtes Archivmobiliar ergänzt. Alternativ werden Teile des vorhandenen Archivmobiliars um ein schlichtes Einbaumobiliar (großer Präsentationstisch, Schrankwände, Regalwände) ergänzt. Die Demonstration freiwilliger Armut soll im vorhandenen Pirmasenser Kontext der erzwungenen Armut eine neue Perspektive eröffnen.

Besucher des Archivraums müssen sich für eine Präsentation der Dokumente durch den Archivar anmelden. Sie dürfen die Dokumente unter Aufsicht des Archivars betrachten, lesen, berühren, sofern sie weiße Archivar-Handschuhe tragen. Nicht angemeldete Besucher finden die Tür zum Archiv verschlossen, können jedoch durch ein Fenster im oberen Teil der Tür die Archiv-Installation betrachten. Der Ausschnitt für das Fenster ist so gewählt, dass er die Besucher zum Schauen verführt, sie in Voyeure verwandelt (nach dem Vorbild von Duchamps Installation „Étant donnés“).

Im Züricher Cabaret Voltaire hat Hugo Ball bei seinen Auftritten eindrücklich den Gewinn des Ganzen durch das Opfer des Partiellen, des Eigenen vorgeführt: Wer auf das konventionelle, zielgerichtete, bedeutungsgeladene Sprechen verzichtet, wer bereit ist, die eigene Stimme im dämonischen, sinnlosen Chaos der Laute untergehen zu lassen – der bringt auf magische Weise das Ganze der Sprache (die Sprache als Medium) zum Erklingen und gewinnt zugleich Macht über die Sprache. Er spricht eine Sprache, die jeder versteht, weil sie nichts bedeutet; eine universale oder, wie Hugo Ball es formulierte, eine „unangreifbare“ Sprache. Der Sprecher dieser Sprache erzeugt einen Effekt der Freiheit und der Gleichheit: Er – der Künstler, Asket, Anarchist – verzichtet demonstrativ auf Spezialisierung und Professionalisierung und spricht wie ein Kind, wie ein Jedermann, der nichts Besonderes kann. Er macht sich zu einem maximal reduzierten, meinungslosen, eigentumslosen Menschen, zu einem unprofessionellen, unspezialisierten, ganzen Menschen, zu einem radikal Gleichen. Und er macht sich auf radikale Weise frei, weil seine Sprache nicht zu widerlegen ist. Wer nichts aussagen will, dem kann auch nicht widersprochen werden. Sein Sprechen ist eine revolutionäre Praxis: rein repetitiv,
ohne Sinn, ohne Ziel, ohne Ende, ohne Anfang und damit unabhängig von (endlicher) Zeit und (knappem) Geld. Er ist schneller als die Zeit, er flieht aus der Zeit mit leichtem, maximal reduziertem Gepäck.

Der ganze Mensch (der Künstler, der Heilige) offenbart sich im Moment des Opfers des Eigenen und des Eigentums. Für diese Offenbarung braucht er eine Bühne. Das Cabaret erfüllt die Funktion eines billigen, improvisierten Gesamtkunstwerks. Im Gesamtkunstwerk (nach Richard Wagner) ist die ästhetische Distanz abgebaut, alle Zuschauer sind Darsteller, alle partizipieren an der durch das Opfer des Künstlers erzeugten Gleichheit und der Freiheit. Was der Künstler vorführt, „kann ja jeder“, „könnte genauso gut mein Kind“; zugleich tun es die wenigsten, sind die wenigsten zum Opfer des Eigenen bereit; zugleich bilden die Künstler einen „elitären“ Club der Selbstenteigner.

Der Hauptraum der Ausstellung ist als Ort der Wiederaufführung (reenactment) konzipiert. Er wird fast vollständig von einem quaderförmigen Zelt aus grauem Molton ausgefüllt, dessen tragendes Gerüst entweder von der Decke hängt oder auf dem Boden steht. Im Innenraum stehen gebrauchte oder neue, schlichte, leichte Stühle, eventuell auch Tische. Wie der Archivraum wird auch der Aufführungsraum mit einem niedrigen Budget aufgebaut und eingerichtet. Auf die Innenseiten der Wände werden Videos projiziert. Die Videos zeigen Pirmasenser Bürgerinnen und Bürger, die (entweder selbst oder von den Kuratoren) ausgewählte Fragmente aus Werken von Hugo Ball entweder vorlesen (Prosatexte, Tagebucheinträge etc.) oder aufsagen (Gedichte oder Teile von Gedichten, kurzfristig auswendig gelernt). Alle Videos werden bei YouTube hochgeladen und vom strukturell dadaistischen Raum des Internets in den Raum des Video-Cabarets übertragen.
Dabei wird es möglich sein, jedes einzelne Video klar und deutlich zu sehen und zu hören (jeder Pirmasenser bekomme die von Andy Warhol geforderten „15 Minuten Ruhm“); allerdings ist in der Umgebung jedes einzelnen Videos auch die visuelle und akustische Überlagerung mehrerer Videos schwach wahrnehmbar. Je nach gewähltem Standpunkt können die Videos also einzeln oder simultan gesehen und gehört werden.
Für die Aufnahme können die Laiendarsteller die Form ihrer Selbstinszenierung (Hintergrund, Ausschnitt etc.) frei wählen, werden aber von den Kuratoren beraten. Die Kluft zwischen den Bürgerinnen und Bürger und dem Künstler – dem zum Teil ungeliebten Sohn der Stadt Pirmasens – wird in diesen Videos überbrückt: Die Pirmasenser zeigen sich bereit zu tun, „was jeder tun kann“. Sie wiederholen die revolutionäre Geste der Selbstenteignung und demonstrieren sich selbst und anderen, dass jeder ein Künstler sein kann, wenn er nur bereit ist, auf die eigene Stimme, die eigene Meinung zu verzichten.

(Zu überlegen wäre, ob auch Videodokumentationen von Ablehnungen der Partizipation am Ausstellungsprojekt oder von kritischen Äußerungen Pirmasenser Bürgerinnen und Bürger zu Hugo Ball oder zum Ausstellungsprojekt präsentiert werden sollen, das Einverständnis der Betroffenen vorausgesetzt; denn Ablehnungen oder Kritik wird es zweifellos geben.)